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Wuzhen, Hangzhou, ChinaOft hört man den Ausspruch “wir möchten das wirkliche China sehen”. Gemeint ist dann wohl das „alte China“, das historische, das voller Traditio-nen, Mythen und Geheimnisse steckt und ein bißchen Romantik.

Nun, in Wuzhen im Norden der Provinz Zhejiang, rund 140 Kilometer südwestlich von Shanghai, kann man eine Vorstellung davon bekommen, wie es in der wasserreichen Gegend am Unterlauf des Jangtste - die mit ihren vielen Seen und Kanälen und dem nahen Meer auch als das Land von „Fisch und Reis“ gilt - vor hundertfünfzig oder zweihundert Jahren ausgesehen haben mag.

Diese für die landwirtschaftliche Produktion und den Handel so bedeutende Region war schon immer im Brennpunkt des Interesses der Kaiser und der Kaufleute.
So ist es auch nicht verwunderlich, daß schon vor fast 1400 Jahren ein Wasserstraßensystem, bestehend aus Flüssen, Seen und Kanälen, geschaffen wurde, daß die Gegend um Hangzhou und Suzhou mit der tausend und mehr Kilometer entfernten, nordwestlich gelegenen Gegend um Luoyang und Chang’an und später auch mit Beijing verband.

Dieses Wasserstrassensystem, das auf Chinesisch einfach „Großer Kanal“ genannt wird, wird in Europa oft auch als „Kaiserkanal“ bezeichnet.

Wuzhen liegt direkt am „Großen Kanal“.
Die Siedlung war eines von den wirtschaftlichen Zentren, die als die „Wasserstädte in Jiangnan“ bekannt sind. Mit Jiangnan wird die flache, wasserereiche Gegend südlich des Jangtse benannt.

Obwohl die ältesten Siedlungsspuren 6000 Jahre alt sind und die ersten schriftlichen Bezüge auf Ortschaften an dieser Stelle über 2000 Jahre zurückreichen sollen, stammt das heutige Erscheinungsbild vorwiegend aus dem 19. Jahrhundert, einer Zeit des sich entfaltenden Handels und des sich entwickelnden Frühkapitalismus in der Qingdynastie.

Das wasserreiche Schwemmland am Unterlauf und im Mündungsbereich des Yangtze ist mit einer Unzahl von Kanälen durchzogen, die eine effektive Landwirtschaft mit Be- und Entwässerung und ein effizientes Transportsystem mittels Booten ermöglichten.

Das Erscheinungsbild dieser Wasserstädte ist deshalb geprägt von den Häusern, die direkt entlang der Kanäle gebaut sind, den vielen Brücken und den zahlreichen Booten, die den Güter- und Personenverkehr bewältigen.
Aus diesem Grunde werden sie oft auch mit Venedig verglichen.

1991 wurde Wuzhen als eine denkmalschutzwürdige Stadt auf Provinzebene registriert.
Seit 1999 bemühte man sich die Altstadt mit ihren ca. 1 200 Bewohnern durch intensive nationale und internationale Öffentlichkeitsarbeit mehr in den Blickpunkt der touristischen Aufmerksamkeit zu rücken. Zu dem Erfolg dieser Arbeit in China trug sicher auch die bekannte chinesische Fernsehserie „Si Shui Nian Hua“ bei, die hier gedreht wurde.
Inzwischen wurde Wuzhen zusammen mit Zhouzhuang, Luzhi und Xitang in die vorläufige Liste des UNESCO - Weltkulturerbes aufgenommen.

Das heutige, von den Touristen besuchte Wuzhen, entstand aus zwei benachbarten, ursprünglich getrennten Siedlungen, die zu verschiedenen Verwaltungseinheiten gehörten. Die beiden ehemals getrennten Siedlungen gruppieren sich jeweils um den „Westlichen Stadtkanal“ und den „Östlichen Stadtkanal“ und die mit ihnen verbundenen Seitenkanäle und Teiche.

Neben den architektonisch interessanten Häusern sind vor allem die Brücken und die alten Handwerksbetriebe besuchenswert, in die man auch gerne eingelassen wird.

Allein im westlichen Teil des Städtchens gibt es 72 Brücken. Eine so große Zahl auf so kleinem Raum findet man selten in China, weshalb Wuzhen oft auch als „Museum für alte Brücken“ bezeichnet wird. Die meisten sind Bogenbrücken und es ist erstaunlich, daß kaum eine Brücke der anderen gleicht. Einige sind nicht nur einfach Brücken, sondern haben Dächer oder Pavillions darauf. Bemerkenswert sind auch die Inschriftentafeln an den Enden der Brücken.

Von der Vielzahl der Handwerksbetriebe die noch existieren, sollen vor allem folgende genannt werden:

- die Brokatweberei
Neben Reisanbau und Fischfang ist die Gegend zwischen Suzhou und Hangzhou auch berühmt für die Seidenproduktion. Wenn man keine Gelegenheit hat, die dortige Seidenherstellung und ihre Verarbeitung zu sehen, sollte man unbedingt den hiesiegen Betrieb besuchen. Der Betrieb vereinigt alles, von der Poduktion der Maulbeerbaumblätter, über die Raupenzucht, die Seidenspinnerei bis hin zur Brokatweberei, die noch auf Maschinen aus dem Jahr 1923 geschieht.

- der Betrieb für „Blaudruck
Brokat war kein Kleidersoff der für das arbeitende Volk hergestellt wurde. Für die, die sich keinen Brokat leisten konnten, gab es die blau bedruckten [Direktdruck] oder blau gefärbten, weiße Muster enthaltenden Baumwollstoffe [Reservedruck]. Hier kann man den Prozeß des Reservedrucks, des Färbens, des Oxidierens usw. kennenlernen.

- die Eisengießerei
Diesen Betrieb mit einer Geschicht von 140 Jahen sollte man unbedingt besuchen. Wo hat man noch Gelegenheit einen solchen Handwerksbetrieb zu sehen. Die Hüttenleute in ihrer weißen Arbeitskleidung und den weißen Strohhüten gießen hauptsächlich eiserne Pfannen und Töpfe.

Nach der harten Arbeit braucht man auch ein bißchen was anderes. Deshalb empfehlen wir noch den Besuch

- der „Sanbai“ - Schnapsbrennerei
Es ist der letzte Betrieb von ehemals 20, der überlebt hat. Hier wird ein „Klarer“ aus Klebreis hergestellt und

- den Betrieb zur Herstellung von Pfeifentabak
Hier kann man den gesamten Prozeß von der Fermentierung über die Trocknung in der Sonne bis hin zum geschnittenen Tabak kennenlernen.

So wie die deutschen Berg- und Hüttenleute eine weibliche Schutzpatronin - die Heilige Barbara - haben, haben auch die Gießer in Wuzhen eine weibliche Schutzpatronin.

Neben den in allen chinesischen Gegenden häufig zu findenden buddhistischen und etwas selteneren daoistischen Tempeln, die es hier natürlich auch gibt, haben sich in Wuzhen auch noch eine Reihe von Tempeln für die lokalen Gottheiten und Schutzpatrone erhalten.

Zum Beispiel wird das Bildnis des Generals Wu aus der Tangzeit in seinem Tempel flankiert von den Göttern für das Feuer und das Wasser.

Wuzhen, Hangzhou, ChinaIm Tempel für den Gott des Glückes wird das Vorbild eines Ministers aus der Shang-dynastie verehrt. Die Leute verehren ihn wegen seiner Selbstlosigkeit und und der Ehrlichkeit beim Geldverdienen.
Jedes Jahr am fünften Tag des ersten Monats des Mondkalenders werden ihm zu Ehren in seinem Tempel Weihrauchstäbchen abgebrannt, verbun-den mit der Bitte, den Leuten Glück zu bringen. Gleichzeitig werden natürlich auch die Götter des Reichtums um Beistand gebeten.

Im dritten Monat des Mondkalenders findet eine Tempelmesse - der sogennante „Weihrauchmarkt“ - statt. Der Ursprung der Tempelmesse reicht bis in die Tangdynastie zurück. In diesem Monat gilt die besondere Verehrung und die Bitte um Beistand dem Buddha.

Der traditionelle Markt für Räucherwerk in Wuzhen ist nach dem ent-sprechenden Markt am Westsee in Hangzhou der zweitgrößte derartige Markt der Region.
Während der Ming- und Qingdynastie gab es in Wuzhen zahlreiche Tempel und viele Pilger. Mit ihnen kamen auch viele Straßenhändler und Theatertruppen nach Wuzhen, um die Pilger zu unterhalten und gleichzeitig ein gutes Geschäft zu machen.

Erwähnenswert ist sicher auch das Stadtgottfest im siebenten Monat des Mondkalenders. Es gilt als eines der lebhaftesten Feste.

Nach all den Besichtigungen kann man sich etwas ausruhen, in dem man den Opernaufführungen auf den Bühnen der Stadt zusieht, das Schattentheater besucht oder eine Rast in einem Teehaus macht.

Zum täglichen Leben gehörte im alten China [und nicht nur dort] auch das Pfandhaus, das man heute noch in der Stadt besichtigen kann.
Das Geschäft mit der Pfandleihe kann zurück verfolgt werden bis in die Zeit der Südlichen Dynastien vor mehr als 1500 Jahren. In dieser Zeit begannen die Tempel die Überschüsse, die durch die Spenden der Leute entstanden, gegen hohe Zinsen zu verleihen.

Und wie überall konnten sich auch in Wuzhen die Leute um alles und nichts streiten. Für die Wiederherstellung der Ordnung hatten dann die Beamten des Yamen zu sorgen, denen die niedere Gerichtsbarkeit oblag. Zum Ende der Mingperiode gegründet, endete dessen Zuständigkeit nach mehr als 370 Jahren mit der Gründung der Republik im Jahr 1911. Das Gebäude und seine alte Einrichtung sind noch erhalten und können heute besichtigt werden.

Von den zahlreichen und sehr sehenswerten Museen, die es in Wuzhen gibt, soll besonders das „Museum für die gebundenen Füße“ genannt werden. Es ist weltweit das erste Museum, daß sich ausschließlich diesem Thema widmet. In ausführlichen Erklärungen wird dargelegt, wie den kleinen Mädchen ab dem Alter von drei Jahren die Zehen gebrochen wurden, um den Fuß in die gewünschte Form zu bringen und wie die Füße gebunden wurden, um das Kochenwachstum zu verhindern oder in einer Form vorsich gehen zu lassen, die die gewünschte Form nicht beeinträchtigt. Obwohl die Frauen mit diesen schwer verkrüppelten Füßen kaum richtig laufen konnten, hatte sie doch all die täglichen Arbeiten im Haushalt und im Feld zu tun.
Auch das ist das alte China - zum Glück!

Gute Beschreibungen des Lebens in Wuzhen finden sich bei Mao Dun [geb. 04.07. 1896 in Wuzhen, gest. 27. 03. 1981 in Beijing] in seinen Erzählungen „Der Laden der Familie Lin“ und „Weihrauchmarkt“. Sein Geburtshaus hier in Wuzhen ist heute in ein Museum umgewandelt.

Man könnte noch stundenlang fortfahren, sehenswürdige Punkte aufzuzählen.

Aber besser ist es, Sie fahren selber einmal hin und finden heraus, was es noch so alles gibt.
Denn, wie sagt ein chinesisches Sprichwort: „Einmal sehen ist besser als tausendmal hören.“

Noch ein Wort zum Schluß.
Wenn die meisten Touristen am späten Nachmittag wieder zurückgefahren sind in die hektischen Städte, aus denen sie kamen, zieht in Wuzhen wieder Ruhe ein. Ein Abendspaziergang durch die Gassen und ein Essen in einem netten Lokal, an einem der Kanäle, ist sicher ein schöner Abschluß für einen interessanten Tag.

[© china-entdecken.com, Gert Wiemeier, März 2009]